Zentrum für
künstlerische
Nachlässe

Nachlassgespräche

«Kunst ohne Ruhm ist sinnlos.» – Nachlassgespräch mit Lukas Bärfuss


«Verbrennen bleibt eine Möglichkeit.» Lukas Bärfuss über Nachlassplanung.

 

Das Zentrum für künstlerische Nachlässe (ZKN) hat mit dem Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss über literarische Nachlässe gesprochen und darüber, was er eines Tages der Nachwelt hinter- und überlassen will.

Die Fragen stellten Florian Schmidt-Gabain und Thomas Strässle, Präsident und Vizepräsident des ZKN. Die Fotos stammen von Zsigmond Thot.

 

ZKN: «Exegi monumentum aere perennius.» – «Ich habe ein Denkmal geschaffen, dauerhafter als Erz.» Damit meinte der römische Dichter Horaz, von dem diese Gedichtzeile stammt, sein literarisches Schaffen. Im selben Gedicht erzählt uns Horaz, wie er durch das Lob der Nachwelt stetig wachsen werde und sich aus niedrigem Stand zum unsterblichen Dichterfürsten emporgeschwungen habe. Sie stammen aus Thun und haben vor zwei Jahren nach Ihren eigenen Worten mit dem Büchner-Preis den literarischen Engelskuss erhalten. Das kann man durchaus als Parallele zu Horaz sehen. Möchten Sie es ihm auch in Nachlasshinsicht gleichtun und noch in 2’000 Jahren gelesen werden?

Lukas Bärfuss: Ja, mindestens! Kunst ohne Ruhm ist sinnlos. Ruhm bezieht sich auf die Zeit, nicht auf den Raum. Wenn es die Dimension der Zeit nicht gäbe, wüsste ich nicht, weshalb sich jemand der Kunst zuwenden sollte. Wer liest, begegnet Menschen, die längst gestorben, Gesellschaften, die längst verschwunden sind. Und wer schreibt und publiziert, sieht seine Bücher im Regal neben den alten Geschichten, zum Beispiel jenen von Horaz. Was wir über die Römer wissen, wissen wir durch seine Texte, seine Gedanken, seine Vorstellungen. Von vielen Menschen, die sich zur Zeit von Horaz für wichtig hielten, ist nur Staub geblieben.

 

Was macht für Sie persönlich einen literarischen Nachlass relevant?

Nicht wenige Autorinnen und Autoren gibt es nur, weil jemand ihren Nachlass vor der Vernichtung gerettet hat. Ein erfolgreiches Verfahren zur Rettung ist das Kopieren. Die Texte der vorsokratischen Philosophen kennen wir nur durch Sammlungen, die aus den Werken anderer Autoren zusammenkompiliert wurden. Zu Parmenides gehört auch Simplikios, der ihn abgeschrieben und kommentiert hat. Hier handelt sich um die Überlieferung eines Gedankens, um etwas Immaterielles. Horaz spricht davon, dass er an einem Triumphbogen als gemeisselte Inschrift überleben wird. Wir materialistischen Zeitgenossen verbinden mit dem Nachlass etwas Physisches, Material. Ich weiss nicht, wer das Nachlassmanagement der Moderne erfunden hat. Kafka hat es sicher ex negativo erfunden, ein Fantasma des 20. Jahrhunderts: der Nachlassverwalter, der sich über den Willen des toten Autors hinwegsetzt und sein Werk nicht vernichtet. Und dann gibt es die zu Tode edierten Autoren. Elias Canetti zum Beispiel. Da wurde aus dem Nachlass so viel publiziert, dass keine Werkstruktur mehr erkennbar ist. Bei Büchner ist die Situation nochmals eine andere: Woyzeck wurde erst durch die chemische Behandlung lesbar – gleichzeitig hat man das Material damit beschädigt. Hier muss man beinahe von der Vernichtung durch Nachlassbetreuung reden. Das ist ein Paradigma: Nachlässe retten nicht nur, sie zerstören gleichzeitig.

 

Was wird zerstört?

Ich habe gute Gründe, weshalb ich gewisse Texte nicht publiziere. Mein Werk entsteht eben auch durch die Nichtpublikation. Wenn diese Texte aus meinem Nachlass publiziert werden, wird mein Werk zerstört. Mein eigenes, nicht das Werk der Philologen. Wobei ein Werk etwas ist, das an den Rändern sehr unscharf wird. Die Vorstellung der autonomen Beziehung zwischen dem Dichter und seinem Werk ist wohl dem Geniekult geschuldet. In Wahrheit sind viele Geister an der Entstehung von Texten beteiligt, in ganz unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichen Rollen. Raymond Carver ist dafür ein Beispiel: Sein Lektor Gordon Lish überarbeitete die Manuskripte intensiv. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass er für den typischen Carver-Stil zumindest mitverantwortlich ist.

 

Sie haben gesagt, das Werk des Dichters könnte zerstört werden durch die Nachlassverwalter. Ist es Aufgabe des vorausschauenden Dichters, schon jetzt Einfluss darauf zu nehmen, was dereinst mit seinem Werk passiert?

(zögert) Ich bin mir nicht sicher. Es gibt Beispiele für schwere Irrtümer. Autoren verachten oft ihre grössten Werke, Werke, welche die Nachwelt dann als Meisterwerke bezeichnet.  Ein Beispiel ist Goethe, der gegenüber Eckermann meinte, auf alles was er als Poet geleistet habe, bilde er sich gar nichts ein, dass er aber in seiner Farbenlehre als einziger das Rechte wisse, darauf halte er sich einiges zu gute.  Er hatte von sich als Künstler also ein ganz anderes Bild als die Nachwelt. Deshalb verspüre ich eine gewisse Demut meinen eigenen Artefakten gegenüber. Es gibt keine absolute Position. Interessant ist die Dialektik, das Spannungsverhältnis zwischen dem Material, der Zeit, der Öffentlichkeit, dem künstlerischen Willen. Die Arbeit in diesen Kräfteverhältnissen ist für eine Gesellschaft immer auch ein Anlass, um über sich selbst gewahr und bewusst zu werden.

 

Das eine ist die Bewertung der Texte durch die Nachwelt. Das andere ist, ob man für einen Nachlass bzw. in Ihrem Fall für einen Vorlass eine Strategie entwickeln will. Machen Sie sich solche Überlegungen?

(Pause) Ich versuche, leserlich zu schreiben. Ich versuche, gutes Papier zu verwenden, mich gut zu dokumentieren. Aber aus einem ganz anderen Grund. Denn was Sie in Ihrer Frage andeuten, ist für einen Künstler gefährlich: dass er nicht aus seiner Zeit, sondern aus der Zukunft heraus schreibt. Das kommt nicht in Frage. Ich schicke Nachrichten in die Zukunft, aber ich schicke sie aus meiner Gegenwart. Ich versetze mich nicht in die Zukunft und überlege mir, was dann interessant sein könnte. Im Übrigen fehlt mir die Zeit dazu: Ich bin in meiner täglichen Arbeit mit viel Papier konfrontiert. Ich muss es organisieren. Heute habe ich meine Stube mit dreissig dicken Dossiers ausgelegt, alle gefüllt mit Papier, das ich beschrieben habe. Und letzte Woche habe ich die Druckfahnen für den neusten Stückeband erhalten. Das werden 390 Seiten. Für eine druckbare Seite bedarf es zehn Seiten Entwürfe. Da kommt also einiges zusammen. Wenn es mir gelingt, mich in meinem Papier zu organisieren, dann werden auch meine gedanklichen Pfade nachvollziehbar für jemanden, der sich meinem Nachlass widmet.

 


«Wenn der Nachlass zum Anlass wird, eine lebendige Auseinandersetzung mit den Dichterinnen und Dichtern dieser Gesellschaft zu befördern, wäre das eigentlich das Schönste.»

 

Ein anderes Problem ist, dass viele Autoren elektronisch schreiben und die Spuren verwischt sind.

Das ist ein ungelöstes Problem. Wir haben den dauerhaften digitalen Datenträger noch nicht erfunden. Und wir produzieren digital eine Unmenge an Texten. Auf der einen Seite ertrinken wir in diesen Daten. Auf der anderen Seite sind diese Daten flüchtig. Eine Auswahl zu treffen und diese dann dauerhaft aufzubewahren, ist bereits eine Verfälschung der tatsächlichen Arbeitsumstände. Wir leben ja nicht so. Die zeitgenössische digitale Produktion ist gross und ephemer, nicht dauerhaft und klein. Nachlässe sind häufig ein Zerrbild der Arbeitsweise.

 

Dass Datenträger und Daten verschwinden, kann auch etwas Gutes sein. Nietzsche hat gesagt, eine Kultur kann ersticken am eigenen Gedächtnis.  Wenn es keine Selbstzerstörung gäbe, wären wir gar nicht frei, etwas Neues zu schaffen.

Es ist vor allem unvermeidlich. Es wäre das erste Mal in der Geschichte, dass ein kultureller Bestand in seiner Gesamtheit überlebt.

 

Zu Ihrem Nachlass spezifisch. Woraus wird Ihr dereinstiger Nachlass bestehen? Gibt es Sachen, die Sie absichtlich wegwerfen, damit sie nie in den Nachlass gelangen?

Mit dem Büchner-Preis monumentalisiert man sich zwangsläufig. Das geht nicht anders. Ich versuche, mich ehrlich gesagt dieser Nachlass-Frage zu stellen, um ihr ausweichen zu können. Ich habe mein Zeug immer vollständig weggeräumt, auch aus Faulheit, damit ich keine Auswahl treffen musste. Ich schmeisse nichts weg. Mein Nachlass wird aus viel Papier bestehen.

 

Das heisst, es gibt auch unveröffentlichtes Material in signifikantem Umfang?

Tonnenweise. Das ist jedes Mal ein Schock, wenn mir eine Archivkiste in die Hand fällt. Ich sehe eine Jahreszahl, darin Papier mit meiner Handschrift. Da denke ich: Bärfuss, was ist eigentlich los mit dir. Das ist irre. Ich weiss gar nicht, wie ich das beschreiben kann. (pausiert) Das ist etwas Unheimliches und erzeugt den Wunsch, mich davon zu befreien. Ein Autodafé, das Verbrennen von Büchern, ist wie das Kleinschlagen von Hotelzimmern. Wenn man 30 Nächte hintereinander in 15 verschiedenen Hotels geschlafen hat, dann hat man Lust, so ein Hotelzimmer kleinzuschlagen. Das Verbrennen dieses Papiers, um Tabula Rasa zu machen, das ist etwas Passendes.

 

Sie widerstehen aber diesem Impuls?

Bis jetzt. Aber ich weiss nicht, ob ich ihm noch länger widerstehe. (lacht) Das Vernichten des eigenen Nachlasses halte ich tatsächlich für eine Möglichkeit, und nicht für die Dümmste. Ich habe eine lange Erfahrung als Stiftungsrat der Max Frisch-Stiftung. Ich sehe, was das für Geschenke bringt. Aber Geschenke sind nie umsonst. Wer ein Geschenk erhält, sagt Merci – also Gnade! Ein Geschenk ist immer auch mit einem Schmerz verbunden. Es gibt Menschen, die von meinem Nachlass betroffen sein werden. Er entstand aus einem gelebten Leben. Ich schreibe nicht nur über leichte und einfache Dinge. Es kommen auch Menschen vor. Die Spuren sind nicht immer fröhlich. Der Gedanke, dass sich jemand mit meinem Mist befassen muss, beschämt mich. Wenn ich mir vorstelle, ich bin verbrannt und im Acker und jemand muss dann das Zeug wegräumen, meine Monumente aus Schwierigkeiten.

 

Es hat auch aus der anderen Perspektive etwas fast Obszönes, zum Beispiel intime Briefe eines Autors oder einer Autorin zu lesen. Wer gibt uns die Legitimation dazu?

Niemand. Aber es ist Teil unserer kulturellen Praxis. Das meiste, das wir über die Vergangenheit wissen, haben wir durch eine Übertretung erfahren. Wir brauchen das. Wenn es hingegen das eigene Leben betrifft, stellt sich die Frage: Möchte ich das der Ewigkeit zur Verfügung stellen?

 

Es hat auch Briefwechsel in Ihrem Nachlass, E-Mail-Korrespondenzen, SMS. Legen Sie das auch weg? 

Wenig. E-Mails müsste man wirklich archivieren bei mir. Das ist immer noch schwierig. Ausdrucken und ablegen ist wahrscheinlich das Beste. Aber das würde nochmals eine Explosion des Papiers bedeuten, in dem ich lebe. Das ist auch eine physische Herausforderung. Ganz zu schweigen von den Büchern. Den meisten Raum bei mir nehmen die fremden Texte ein. 

 


«Ich verfüge über tonnenweise unveröffentlichtes Material.»

 

Wo ist Ihr Vorlass aufbewahrt?

Das ist ein Sicherheitsrisiko. Dazu gebe ich keine Auskunft (lacht). Er ist an einem sicheren Ort.

 

Haben Sie sich schon konkrete Überlegungen gemacht, was mit dem Vorlass passieren soll? Was er für eine Struktur erhalten soll, wer darüber entscheiden soll in Zukunft?

Ich führe fort, was ich immer gemacht habe. Ich lege ab und katalogisiere sehr rudimentär. Ich führe eine Excel-Liste mit Kistennummern und Inhalt. Das reicht mir vorderhand.  (zögert) Es ist nicht meine Aufgabe, ein System hineinzubringen.

 

Und dann?

(Lacht) Das ist die Frage! Das denke ich häufig, wenn ich die Migros-Werbung sehe: «Mehr Zeit zum Leben». Was würde ich machen, wenn ich nicht mehr kochen würde? Eine furchtbare Vorstellung. 

 

Denken wir mal in Best- und Worst-Case-Szenarien: Was wäre für Sie eine ideale Vorstellung, wie jemand mit Ihrem Nachlass umgeht? Und was die schrecklichste Vorstellung? 

Das Allerschönste wäre, wenn jemand sich mit Freude um meinen Nachlass kümmert und davon inspiriert wird. Jemand, der mag, was ich schreibe, und der eine gute Zeit hat mit dem, was ich da hinterlassen haben werde. 

 

Und der dann auch in eigener Kompetenz macht, was er oder sie aus der Begeisterung heraus für richtig hält?

Das ist unvermeidlich. Mit dem Tod sind wir enthoben von der Verantwortung und der Kontrolle. Ich bin kein Kontrollfreak. Möglich, dass ich für 500 Jahre vergessen gehe und man erst dann wieder irgendwo ein Manuskript von mir findet. 

 

So wie zum Beispiel der Renaissance-Maler Caravagggio, der erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurde.

Ich höre die gesellschaftliche Resonanz in dieser Frage. Wie sollte sich eine Gesellschaft positionieren gegenüber dem künstlerischen Erbe, den Nachlässen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller? In der Schweiz gibt es das Literaturarchiv. Ein Geniestreich von Friedrich Dürrenmatt, der das literarische Leben bis heute befruchtet und belebt. Was mich an der Max Frisch-Stiftung entzückt, sind die Gespräche im Stiftungsrat. Die Auseinandersetzung ganz unterschiedlicher Menschen über verschiedene Aspekte des Geisteslebens. Als ehrenamtlicher Stiftungsrat lernen wir und tragen dieses Wissen wieder in die Gesellschaft zurück. Das ist das Kostbare an einem monothematischen Archiv, das Privileg, viel Zeit für einen einzigen Nachlass zu haben.

 

Das heisst, das Ziel eines Schriftstellers sollte es sein, den eigenen Nachlass nicht dem Schweizerischen Literaturarchiv zu übergeben, sondern ein eigenes Archiv zu schaffen? 

Täusche ich mich oder stellen Sie mir eigentlich eine andere Frage? Ob es gut wäre, die schweizerische Nachlasspolitik auf mehrere Pfeiler zu verteilen und sie nicht nur auf das Literaturarchiv zu stützen? Meine Antwort auf diese Frage wäre: unbedingt. Es braucht verschiedene Formen literarischer Nachlässe, im Grunde so viele, wie es Dichterinnen und Dichter gibt. Ganz grundsätzlich müsste man sich auf allen Ebenen stärker darum kümmern, was früher war, und man müsste diese Geschichte lebendig halten. Ich frage mich manchmal: Warum soll nicht die Öffentlichkeit selbst Publikations-Reihen ins Auge fassen? 

 

Sie meinen, Publikationen sollten nicht den privaten Verlagen überlassen werden? Sollte beispielsweise das Literaturarchiv oder eine andere Institution dafür besorgt sein, dass die archivierten Texte wieder zu den Menschen kommen?  

Was bringt es, einen literarischen Nachlass einer Dichterin zu pflegen, wenn ihre Werke nicht mehr greifbar sind? Da wird auch der Nachlass obsolet. Die erste Frage ist deshalb: Wie halten wir die Dichtung im gesellschaftlichen Gespräch? Welchen Platz geben wir der Dichtung? Wenn der Nachlass zum Anlass wird, eine lebendige Auseinandersetzung mit den Dichterinnen und Dichtern dieser Gesellschaft zu befördern, wäre das wichtigste und schönste Ziel erreicht.

 

Man müsste die Diskussion wohl noch breiter führen. Dass ein Nachlass zu Publikationen führt, wäre zu begrüssen. Aber eine Publikation ruft Autoren häufig nur kurze Zeit in Erinnerung. Im Moment reden gerade viele von Adelheid Duvanel. Aber schon im Herbst wird diese Schriftstellerin wieder vergessen sein.  

Das stimmt. Das ist die Kurve des Marktes. Sie beschreiben wirtschaftliche Zyklen. Sie bestimmen alles, auch unser Kulturverständnis. Für andere Möglichkeiten gibt es kaum ein Bewusstsein. In Frankreich gibt es das Monument der Reihe «Les pléiades». Das würde kaum zur schweizerischen Kultur passen – womit wir beim eigentlichen Problem wären: Was ist überhaupt unsere Kultur? Ich fühle mich nicht als Schweizer Schriftsteller. Die schweizerische Tradition beschreibt mich nicht vollständig. Es wäre eine Verfälschung, wenn man mich zu einem Repräsentanten einer so genannten Kultur machen würde. Das wäre ein grosser Irrtum. Ich gehöre in eine andere Familie, in die Familie jener, die immer ein bisschen fremd bleiben. Es wäre deshalb schön, wenn zum Beispiel die isländische Kulturbehörde meinen Nachlass aufnehmen würde; wenn mich die Fremden annehmen würden als Eigenen.

 

Zurück noch einmal zur Frage nach dem Worst case-Szenario. Was wäre das für Sie persönlich?

Ich weiss es nicht. Der Umgang mit dem literarischen Erbe ist von Missverständnissen und von Instrumentalisierung geprägt. Die Nachwelt hat Autoren für Dinge geliebt, von denen die Autoren selbst keine Ahnung hatten. Kleist war zwar ein antifranzösischer Nationalist, aber war die Instrumentalisierung durch die Nazis in seinem Werk angelegt? Gewiss nicht. Ist die Identifikation einer demokratischen Gesellschaft auf den politischen Georg Büchner gerechtfertigt? Wahrscheinlich auch nicht. Die Nachwelt macht mit diesem Plunder, was sie will. Ich bin fatalistisch. Warum sollte ich mich mit Dingen beschäftigen, die jenseits meines Ereignishorizontes sind? Das ist vollkommen sinnlos.    

 

Haben Sie sich schon überlegt, wie viel Ihre Verlage später noch zu sagen haben sollen, wenn es um die Vermarktung Ihres Werks geht? Soll der Verlag alleine entscheiden? Oder weitere Gremien? Ihre Familie? 

Ich pflege eine produktive und gesunde Ignoranz gegenüber dieser Nachlass-Frage. Weil ich nicht mein Erbe produzieren will. Ich fühle mich noch sehr lebendig. Ich treffe einige Entscheidungen, gehe aber nicht weiter in die Details. Aber wenn ich zwei Wochen bezahlten Urlaub hätte von einer Stiftung für die Auseinandersetzung mit meinem Nachlass, dann würde ich das vielleicht machen. Bis jetzt habe ich einige Entscheidungen getroffen, aber wie gesagt: Verbrennen bleibt eine Möglichkeit. 

 


«So rufe ich mir zu: Schreib so, als würde jemand in 2,3 Millionen Jahren diese Seite lesen. Dieser Gedanke erleichtert mich.»

 

Welche Entscheidungen meinen Sie?

Wie ich mein Papier ablege. Wie ich arbeite. Ich habe auch deshalb ein gebrochenes Verhältnis zum Thema Nachlass, weil es von meiner Biografie vor dem 20. Lebensjahr nur ganz wenige Spuren gibt. Das liegt an den Brüchen in meiner Familie, an meiner Obdachlosigkeit. Was ich aus meiner Kindheit besitze, wurde mir zugetragen. Lehrerinnen bringen mir alte Aufsätze oder Klassenfotos. Das berührt mich sehr. Ein wesentlicher Antrieb meines Schreibens ist es, Bilder zu entwickeln von Erfahrungen, von denen es keine Zeugnisse, keine Spuren gibt. Ich versuche mir meine Kindheit dichterisch zu erschliessen. Diese Spurlosigkeit der ersten 20 Jahre meines Lebens ist für mich richtig wichtig. Nicht, weil ich das Gefühl habe, ich könnte mir alles zusammenerfinden. Aber schon ein bisschen. Das merkt man ja auch in meinen Büchern. Ich erfinde auch meine eigene Geschichte.

 

Zur Familie haben Sie sich nicht geäussert. Wenn Sie nichts anordnen, wird sie aber Verantwortung übernehmen müssen oder dürfen. 

Das ist furchtbar. Ich halte das für ein grosses Unglück. Das individuelle Erben sollte den einzelnen Menschen nicht aufgebürdet werden. Was über eine gewisse symbolische Anerkennung und Erinnerung hinausgeht, sollte nicht auf die nachfolgende Generation übertragen werden. Aus vielen Gründen. Ich glaube, eine Gesellschaft sollte sich fragen, was ihr Erbe ist. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, nicht eine individuelle. Das hat mit meiner Kritik am Eigentum zu tun. Ich bin für das kollektive Eigentum, für den Gemeinbesitz. Material, das keine Verbindung zu einem Menschen hat, ist Müll. Müll kann kostbar sein, man kann ihn zu Gold machen, aber es bleibt ein Abhub, wie es bei Walter Benjamin heisst. Ich möchte meine Kinder nicht mit meinem Abhub belasten. Sie sollten die Möglichkeit haben, ihre eigene Sache zu schöpfen und ihr eigenes Leben zu haben.

Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Etwas, das mich sehr glücklich macht. Höhlenmalereien und prähistorische Kunst machen mich glücklich. Neulich habe ich in einem Buch das wohl älteste kulturelle Artefakt der Menschheit gesehen, ein Fundstück aus Südafrika. Ein kleiner Kiesel, der ein Gesicht beinhaltet. Sogar mehrere Gesichter. Man kann diesen Kiesel von allen Seiten angucken und er schaut einen an. Vor 2,3 Millionen Jahren – 2,3 Millionen! – hat ein Australopithecus, also noch kein Homo sapiens, diesen Kiesel gefunden und ihn ein paar Kilometer weiter weggetragen. Die Paläontologen haben diesen Stein in einer Gesteinsschicht entdeckt, wo er nicht vorkommt, sondern eben drei Kilometer weiter weg. Schon vor 2,3 Millionen Jahren hat dieses Gesicht unseren Australopithecus angeschaut, hat es eine Begegnung gegeben zwischen einer Form und einem Bewusstsein. Das ist meine Perspektive! Alles andere sind Details. So rufe ich mir zu: Schreib so, als würde jemand in 2,3 Millionen Jahren diese Seite lesen. Dieser Gedanke erleichtert mich. 

 

Das Gespräch wurde am 7. Juni 2021 in Zürich geführt.

 

29. Juni 2021