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«Robert Walser selbst warf 'alles' weg.» – Interview mit Reto Sorg
Reto Sorg ist der Geschäftsführer der Robert Walser-Stiftung, Bern, und leitet das ebenfalls in Bern beheimatete Robert Walser-Zentrum. (Bild: Dominique Uldry)
Welche Geschichte hat der Nachlass von Robert Walser? Durch welche Hände ist er gegangen?
Der Nachlass ist ein Patchwork, er stammt aus Sammlungen unterschiedlicher Provenienz und ist beständig erweitert worden. Am Anfang standen Carl Seelig, der sich zu Robert Walsers Lebzeiten um die Weiterpublikation des Werks bemühte und als Vormund auch dessen Rechte wahrnahm, sowie die letzte überlebende Schwester Walsers, Fanny. 1966 wurde nach dem Tod Seeligs unter seinem Namen eine Stiftung errichtet, die den Bestand aus der Familie als Schenkung entgegennahm. Die Grundlagen aus erster Hand wurden später durch Ankäufe erweitert: etwa die Briefe an Frieda Mermet, die man nach ihrem Tod ihrem Sohn abkaufte, oder die frühen Roman-Manuskripte Geschwister Tanner und Der Gehülfe, die ein Antiquar vermittelte. Im letzten Fall trat nicht die Stiftung als Käuferin auf, sondern die 1996 gegründete Robert Walser-Gesellschaft, eine Partner-Institution mit Mitgliedern in der ganzen Welt, die ihre Ankäufe im Archiv der Stiftung deponiert. Auch die jüngere Vergangenheit brachte erfreulicherweise bedeutende Ergänzungen.
Wie setzt sich der Nachlass Robert Walsers zusammen?
Das meiste sind Manuskripte literarischer Werke, Briefe und Druckbelege, es gibt verhältnismäßig wenig persönliche Unterlagen, praktisch keine Gegenstände. Walsers Spazierstock, seine Lesebrille oder Bleistifte sucht man da vergebens.
Hatte Robert Walser eigentlich ein ›Nachlassbewusstsein‹?
Gemessen an heutigen Standards, wo Schreibende gerne ›alles‹ aufbewahren, um sich selbst ihrer Bedeutung zu versichern, nur in eng begrenztem Maß. Er bat zwar seine Vertraute Frieda Mermet, bestimmte Schriftstücke für ihn zu behalten, warf aber selbst ›alles‹ weg, darunter auch private Korrespondenz und Manuskripte wie etwa jenes der Spaziergang-Erzählung. Eine legendäre Ausnahme gibt es: die Mikrogramme.
Inwiefern stellt Robert Walsers Nachlass eine Besonderheit dar im Vergleich zu anderen Schriftstellernachlässen?
Sicherlich durch die Mikrogramme, jene einzigartigen, in Winzigschrift verfassten Manuskripte, mit denen Robert Walser seit den zwanziger Jahren seine Texte zu notieren pflegte. Sie haben Weltgeltung und befinden sich alle im Eigentum der Robert Walser-Stiftung Bern, wie die ehemalige Carl Seelig-Stiftung heute heißt. Für die Wirkungsgeschichte maßgeblich ist zudem, dass die Stiftung alleinige Inhaberin der Urheberrechte ist. Dies unterbindet den Einfluss partikularer Interessen und ermöglicht eine kohärente und stringente Werkpflege im Dienst der Öffentlichkeit.
Dass alle Urheberrechte bei der Stiftung liegen, ist ungewöhnlich. Wie kam es dazu?
Robert Walser, aber auch sämtliche seiner sieben Geschwister blieben ohne Nachkommen. Die bereits erwähnte Fanny Walser übertrug die Urheberrechte an die Stiftung, mit der Auflage, ein Robert Walser-Archiv einzurichten und die Tantiemen für die Nachlass- und Werkpflege Robert Walsers zu verwenden.
Robert Walser in Berlin, 1907 (© Keystone / Robert Walser-Stiftung Bern)
Was sind die Aufgaben des Stiftungsrats?
Zu überwachen, dass der Stiftungszweck umgesetzt wird. Der verlangt, den Nachlass und das Werk von Robert Walser und Carl Seelig zu bewahren, zu erschließen und zu vermitteln. Zudem legt der Stiftungsrat die Strategie fest und ist – zusammen mit der Geschäftsleitung – für das Fundraising zuständig.
Wie sieht diese Strategie in Ihrem Fall aus?
Um die Stiftung solide aufzustellen und die Bestände ihres Archivs optimal zu pflegen, hat der Stiftungsrat den Sitz der Stiftung 2009 von Zürich nach Bern verlegt und das Robert Walser-Zentrum gegründet, ein öffentlich zugängliches Forschungs- und Vermittlungszentrum zu Robert Walser und Carl Seelig, das inzwischen national und international vernetzt ist. Zur Realisierung des Stiftungszwecks sucht die Stiftung, unter Wahrung ihrer Autonomie, die Finanzierung ihrer Aktivitäten durch eine Kombination privater und öffentlicher Gelder und die Kooperation mit starken Partnern. So werden die Urheberrechte seit 1972 zusammen mit dem Suhrkamp-Verlag (Print) und der Société Suisse des Auteurs (Bühne, Film) wahrgenommen und die Manuskripte seit 2009 in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek verwaltet. Dass das Literaturarchiv die Materialien physisch beherbergt, obwohl sie im Eigentum der Stiftung sind, bewirkt starke Synergien. Wegweisend ist, dass Robert Walser-Zentrum, Robert Walser-Gesellschaft und Literaturarchiv ihre Kräfte bündeln, um Manuskripte anzukaufen. Derart geeint trat man in den letzten Jahren mehrfach erfolgreich in Aktion. Dabei ist für die Stiftung nicht entscheidend, ob am Ende sie oder eine der Partnerinstitutionen die erworbenen Manuskripte besitzt. Hauptsache, sie werden erhalten, erschlossen und öffentlich zugänglich gemacht.
Nach welchen Kriterien werden Texte aus dem Nachlass publiziert?
Wir verfolgen im Wesentlichen drei Publikationslinien. Eine erste beinhaltet populäre Publikationen und Anthologien, die Robert Walsers Werk im Verlag, im Buchhandel und beim Lesepublikum lebendig hält, wie etwa das jüngst erschienene Insel-Bücherei-Bändchen Robert Walsers Wälder. Zweitens gibt das Robert Walser-Zentrum die Berner Ausgabe heraus, eine neue kommentierte Studien-und Leseausgabe, welche die alte, von Jochen Greven in den sechziger Jahren erfolgreich konzipierte Leseausgabe ablöst. Ein drittes Element ist die Kooperation mit der von einer eigenständigen Stiftung finanzierten Kritischen Robert Walser-Ausgabe, die dafür sorgt, dass Robert Walsers Texte auf dem bestmöglichen textkritischen Stand ediert und für die weitere Forschung zugänglich gemacht werden. Die Ergebnisse kommen auch dem Archiv des Robert Walser-Zentrums und der Berner Ausgabe zugute, die etwa von neu aufgefundenen Druckbelegen oder Rezensionen profitiert und die konstituierten Texte übernehmen kann.
Wie arbeitet die Robert Walser-Stiftung Bern mit den Verlagen zusammen, die die Walser-Texte herausgeben? Wie sind die Kompetenzen verteilt?
Die Robert Walser-Stiftung Bern lässt die Urheberrechte für alle Buchpublikationen exklusiv vom Suhrkamp-Verlag wahrnehmen. Dazu gehören auch die wichtigen Übersetzungsrechte, denn der in über dreißig Sprachen übersetzte Walser ist einer der am meisten lizenzierten Autoren des Verlags. Ein Vertrag regelt, dass nur publiziert wird, womit Verlag und Stiftung gleichermaßen einverstanden sind. Die langjährige Partnerschaft mit Suhrkamp verläuft freundschaftlich, inspiriert und einvernehmlich, jede Seite vertraut auf die Kompetenz und Zuverlässigkeit der anderen. Die Win-win-Situation besteht darin, dass der Verlag Umsatz, Gewinn und Image generiert und die Stiftung Wirkung und Einnahmen erzielt.
Wie plant die Robert Walser-Stiftung Bern die Zeit ab 2027, wenn das literarische Schaffen von Robert Walser gemeinfrei wird?
Anders als zu Beginn der Stiftungstätigkeit sind die Tantiemen in finanzieller Hinsicht für die Stiftung nicht mehr existenziell. In den Anfängen machten sie gegen hundert Prozent der Einnahmen aus. Heute sind es keine zehn Prozent mehr. Einerseits weil die Buchumsätze generell rückläufig sind und zudem primär ertragsschwache Taschenbücher abgesetzt werden, andererseits weil sich die Stiftung über Fundraising, Schenkungen, Zuwendungen, Drittmittel, Subventionen und Finanzerträge neue Einnahmen erschlossen hat und laufend neu erschließt.
Die Erfahrung zeigt zudem, dass gute Editionen auch nach Ablauf der Schutzfrist ihren Stellenwert behaupten. Und die editorische Leistung ihrerseits ist ja weiterhin urheberrechtlich geschützt. Deshalb arbeiten wir seit über zehn Jahren mit der Kritischen Walser-Ausgabe zusammen und investieren selbst in die eigene neue Lese- und Studienausgabe im Suhrkamp-Verlag. Die Berner Ausgabe ist 2018 mit den drei Briefbänden erfolgreich gestartet und legt seither jährlich zwei bis drei weitere Bände vor.
Darüber hinaus pflegen wir ein lokales, nationales und internationales Netzwerk. Auch nach Ablauf der Schutzfrist wird das Robert Walser-Zentrum das Kompetenzzentrum und die Anlaufstelle für all diejenigen bleiben, die mit Robert Walser auf irgendeine Weise näher befasst sind. Wer studienhalber oder aus professionellen Gründen am Nachlass und den Archiv- und Bibliotheksbeständen interessiert ist, ist ebenso willkommen wie Liebhaberinnen und Liebhaber, die einfach nur mehr über Robert Walser und Carl Seelig erfahren wollen.
Die Fragen stellten Florian Schmidt-Gabain und Thomas Strässle, Präsident und Vizepräsident des Zentrums für künstlerische Nachlässe (ZKN)
13. Mai 2020