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«Die Frisch-Stiftung stellt weniger die Figur Max Frisch als vielmehr seine Themen in den Vordergrund.»  – Interview mit Thomas Strässle

Max Frisch in der Galerie Erker, St. Gallen, 1967 (Foto: Jack Metzger)

 

Wie hat Max Frisch seinen literarischen Nachlass strukturiert?

Max Frisch ging sehr bewusst vor: Er hat zu Lebzeiten eine Stiftung und ein Archiv gegründet, die sich nach seinem Ableben sowohl um seine veröffentlichten als auch um seine unveröffentlichten Werke kümmern sollten. Was seine Nachlassmaterialien angeht, so hat er eine klare Unterscheidung getroffen: Einen Teil davon – wie Vorstufen seiner veröffentlichten Werke, Briefe mit Schriftstellerkollegen und Verlegern, verstreute Notizen – hat er von Anfang an umfassend in seinem Archiv zugänglich gemacht. Für andere Teile hat er eine Sperrfrist bis 20 Jahre nach seinem Tod verfügt: für die Briefwechsel mit Partnerinnen, zum Beispiel mit Ingeborg Bachmann, und für das legendäre «Berliner Journal». Diese Nachlassmaterialien sind heute entweder publiziert, weiterhin unter Verschluss oder in Vorbereitung zur Publikation. Frisch hat also genau gewusst, was die heisse Ware in seinem Nachlass ist, und hat sie, wie er sich einmal ausdrückte, in den «deep freezer» getan. Es ist eine grosse und anspruchsvolle Aufgabe für den Stiftungsrat der Max Frisch-Stiftung, über die schrittweise Publikation dieser Bestände zu befinden.

 

Nach welchen Kriterien publiziert die Max Frisch-Stiftung zu Lebzeiten unveröffentlichte Werke Frischs posthum?

Man kann und soll nicht alles einfach veröffentlichen, nur weil es von Max Frisch stammt. Bei Texten, die ein sehr vorläufiges Stadium aufweisen und offensichtlich nicht ausgearbeitet sind, macht dies unter Umständen wenig Sinn. Man kann einen Autor auch beschädigen, wenn man jeden Zettel, den er vollgeschrieben hat, an die Öffentlichkeit zerrt. Qualitative Überlegungen spielen also eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung, was publiziert wird und was nicht. Hinzu kommen juristische Abklärungen: Bei Max Frisch sind die Texte häufig sehr eng mit seiner Biographie verbunden, mit der Folge, dass Personen aus seinem unmittelbaren Umfeld unverblümt geschildert werden. Da müssen wir immer auch die persönlichkeitsrechtliche Situation im Auge haben. Ein solcher Fall war das «Berliner Journal», dessen Publikation persönlichkeitsrechtlich sehr problematisch war. Das Medienecho darauf war sehr gross, und es gab auch Versuche in der Presse, die Herausgabe des Journals zu skandalisieren, weil wir nicht alles publizieren konnten.

 

Wie lässt sich der Autor Max Frisch im 21. Jahrhundert relevant halten?

Das ist die Gretchenfrage. Max Frisch gehört zum festen Kanon: in der öffentlichen Wahrnehmung, auf dem Buchmarkt, in den Theatern und in den Schulen. Doch wir können uns nicht darauf verlassen, dass dies ewig so bleibt. Wir müssen aktiv Angebote machen, wie er zeitgemäss gelesen werden kann, und da bietet es sich an, weniger die Figur Max Frisch, als vielmehr seine Themen in den Vordergrund zu rücken. Denn diese Themen sind ungebrochen aktuell: Natur, Staat, Arbeit, Geschlecht, Identität usw. Dazu hat Max Frisch viel zu sagen, und so besteht eine Strategie der Stiftung darin, ihn als Schnittstelle gesellschaftlicher Diskurse im Gespräch zu halten, die bis heute Brisanz besitzen. Und die Stiftung bemüht sich auch um eine permissive Haltung, wenn es beispielsweise um Aufführungen im Theater geht. Ein Idealfall war etwa die Inszenierung von «Graf Öderland / Wir sind das Volk» durch Volker Lösch in Dresden vor einigen Jahren. Die Aufführung pflegte einen sehr freien Umgang mit dem Text von Frisch, schaffte es aber gerade wegen ihres eminenten Gegenwartsbezugs in die grossen Medien. Wenn wir da auf dem Wortlaut des Stücketextes beharrt hätten, hätten wir Max Frisch um seine gesellschaftliche Wirkung gebracht. Man muss auch nicht allzu penibel sein: Wenn ein Regisseur eine miserable Inszenierung eines so bekannten Stückes wie «Andorra» abliefert, wer blamiert sich da: der Regisseur oder Max Frisch?

Die Fragen stellte Florian Schmidt-Gabain, Präsident des Zentrums für künstlerische Nachlässe

 

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29. October 2019